Liebe Freunde und Gönner des sbt

 

Disziplin, Ordnung, Verhaltensregeln und Verbote gehörten in den letzten Jahrzehnten nicht zu den Lieblingsbegriffen unserer liberalen Gesellschaft. Corona hat das schlagartig geändert. Ein paar Meter vor der Eingangstür eines Lebensmittelladens werde ich bissig ermahnt, mir eine Schutzmaske anzuziehen. Als ich im Zug kurz meine Maske abstreife, um die Gesichtserkennung meines Smartphones zu aktivieren, rennt ein empörter Zugbegleiter heran und erinnert mich wild gestikulierend an die Vorschriften. Eine ganze Generation lernt gerade neu, mit dicken Verbotskatalogen zu leben. Das tun die meisten von uns äusserst gesetzestreu. Brav dulden wir massive Eingriffe in die Grundrechte.

Die neue Gesetzlichkeit

Religiöse «Gesetzlichkeit» ist unter Christen verpönt – mit guten Gründen. Jetzt allerdings zelebriert unsere Gesellschaft eine staatliche «Gesetzlichkeit» wie kaum zuvor. Im Namen der Gesundheit wird jede Einschränkung akzeptiert. Wo in den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts höchstens an ein paar Internaten strenge Schulleiter jede kleine Übertretung bestraften, tun das in unseren Tagen die staatlichen Behörden mit der gesamten Bevölkerung. Die behördlich verordnete Diziplinargemeinschaft kommt aber erstaunlich gut an. Wir halten uns strikt an die Regeln und akzeptieren gelassen Verbote und Beschränkungen von Kultur-, Freizeit- und Sportveranstaltungen, die Schliessung von Restaurants sowie Besuchs-, Ausgangs-, Reise-, Alkoholverbote und vieles mehr. Wir beachten die Vorschriften, so mein Eindruck, sogar im vorauseilenden Gehorsam. Keiner will zurückstehen, wenn es um die Eindämmung eines Virus geht. Dafür nimmt man auch Gottesdienstverbote und das gemeinsame Gotteslob in Form von Singen in Kauf. Die Fügsamkeit dem Verordnungsregime gegenüber ist fast bedingungslos. Bei vielen rückt der Staat praktisch an die Stelle Gottes. Wer Christ ist, argumentiert vorzugsweise mit Römer 13,1-7, um jede Form des zivilen Ungehorsams für gesetzwidrig zu erklären. Die sicherlich berechtigte Frage, ob der Staat in der gegenwärtigen Krise tatsächlich «zu unserem Besten» agiert (Römer 13,4), wird jedoch zum Tabu erklärt. Dabei gäbe es grossen Diskussionsbedarf bezüglich Verhältnismässigkeit der Schutzmassnahmen und der daraus entstehenden enormen Kollateralschäden für Wirtschaft und Gesellschaft, ganz zu schweigen von der bedrohten Existenz der Menschen in Staaten, die sich ein modernes Sozialsystem mit Arbeitslosenunterstützung und Härtefallentschädigung nicht leisten können.

Gott (nicht) mehr gehorchen

Bei allem Respekt vor dem Staatsgehorsam: Wenn Menschen ihre Knie vor dem Staat beugen, aber nicht vor Gott, folgen Fremdbestimmung und Heuchelei. So rühmen wir uns, Hunderttausende Menschen durch kluge Massnahmen wie Social Distancing, Versammlungsverbote und gründliches Händewaschen gerettet zu haben. Virologen behaupten: Nie hat eine Gesellschaft deutlicher gezeigt, dass das Leben überaus wertvoll ist. Der Politaktivist Che Wagner bekräftigt im Schweizer Fernsehen: «Das Recht auf Leben ist das höchste Gut.» Wir schützen das Leben wie keine Generation vor uns. Wirklich? In den vergangenen zwei Monaten starben auf unserem Planeten fast zwei Millionen Menschen an Hunger. Diese Toten liessen sich verhindern. «Das Recht auf Leben ist das höchste Gut.»? Warum wird denn täglich 17 Tausend Kindern dieses Recht verwehrt? Sie werden im Mutterleib getötet. Das sind jährlich 42 Millionen Abtreibungen. Dagegen ist die Zahl von 2½ Millionen Menschen der an den Folgen von Covid-19 Verstorben – so tragisch jeder Todesfall ist – doch eher klein.

Staatsrecht und Gottesrecht sind längst nicht immer identisch. Was der Staat zurzeit in Sachen Bevölkerungsschutz verfügt, wird auch von Christen peinlich genau befolgt. Christliche Leiter reihen sich ganz vorne ein, wenn es darum geht, die Menschen zum Impfen zu motivieren oder andere Massnahmen zu befürworten. Damit macht man sich höchstens bei einer Minderheit unbeliebt. Was Gott hingegen über unsere geistliche Gesundheit denkt, nimmt bei Christen eine immer geringere Priorität ein. Wer sich stark macht für das Recht auf Leben der Ungeborenen oder für den Schutz der Ehe von Mann und Frau oder es wagt, nicht nur den liebenden, sondern auch den heiligen und gerechten Gott zu verkündigen, erntet im besten Fall ungläubiges Kopfschütteln. «Blasphemie muss erlaubt sein!», spottete kürzlich ein deutscher Satiriker. Klar, weshalb sollte Gotteslästerung ein Problem sein, wenn es Gott nicht gibt? Blasphemie ist dann allenfalls Staatsungehorsam. Weil Gott aber lebt und sich uns in seinem Wort mitteilt, gebührt ihm als Schöpfer und Erhalter dieser Welt vor allen anderen unser Respekt und Gehorsam. Staatstreue darf nicht über der Bibeltreue stehen. Studierten und praktizierten die Christen die Ordnungen Gottes in gleicher Weise wie zurzeit die staatlichen Verordnungen und Massnahmen, sähe die Wirkkraft der Kinder Gottes wohl anders aus.

Gesundheit als Ersatzreligion?

Wenn die gegenwärtige Pandemie uns Christen den Blick aufs Wesentliche öffnet und uns zeigt, wo wir das Ziel aus den Augen verloren haben, dann können wir ihr viel Gutes abgewinnen. Ich meine, die Coronakrise deckt die grösste Ersatzreligion unserer Gesellschaft auf: Gesundheit. So verstieg sich selbst ein christlicher Politiker neulich zur Aussage: «Gesundheit ist das Wichtigste im Leben.» Ein Statement, das in den Ohren von chronisch Kranken zynisch klingt. Und doch hört man auch von Frommen immer öfter: «Hauptsache gesund!» Als wäre das gute und schöne Leben auf dieser alten Erde das ultimative Ziel von uns Christen. Unsere Gesellschaft unterordnet der Gesundheit nahezu alles. Wir lassen sie uns Milliarden kosten, opfern der Verlängerung des Lebens selbst im allerspätesten Lebensabend um ein paar Monate ein Volksvermögen, riskieren für die Gesundheit eine Wirtschaftskrise, befolgen ein ausgeklügeltes Reinigungsritual und ziehen uns wie Mönche asketisch aus dem gesellschaftlichen Leben zurück, um unsere Gesundheit zu schützen. Vor lauter Vorschriften, Regeln, Gesetzen, Einschränkungen, die das gute Leben etwas verlängern sollen, vernichten wir jede Lebenslust und treiben die Leute in die Depression. Genau dies ist das Merkmal jeder schlechten Religion: Gesetzlichkeit, die nicht Glück und Lebensfreude optimiert, sondern vernichtet.

„Alles, was der Mensch hat, gibt er hin für sein Leben“, behauptet Satan (Hiob 2,4). Tatsächlich: Die Gesundheit mutierte zum Ersatzgott: Die Ärzte ersetzen die Pfarrer, die Spitäler Kirchen und Kathedralen, Therapien, Diäten und Medizin die Gnadenmittel, die Arztvisite die Beichte, der Impfausweis den Taufschein. Sterben hat in dieser neuen Religion keinen Platz mehr. Auferstehung ist schlicht nicht mehr im Blickfeld. Ja, der Tod ist unser Feind und nein, wir sollen das Leben nicht verachten, sondern schützen und geniessen! Aber irgendwann ist aus-gelebt. Und in einer Zeit, die unsere Sterblichkeit wieder stärker ins Bewusstsein rückt, hätten wir Christen die einmalige Chance, den Menschen das eigentliche Ziel zu zeigen: ewiges Leben. Stattdessen lese ich da in einem Wort zum Sonntag: «Lasst uns keine Kosten scheuen, um Leben zu retten, denn Tote stehen nicht mehr auf.» Das also ist das neue „Evangelium“: Tote stehen nicht mehr auf! Sind wir Christen dermassen irdisch orientiert, dass diese Welt das Einzige ist, was bleibt und zählt? Schämen wir uns, über die Auferstehung der Toten zu reden, die Kernbotschaft des christlichen Glaubens schlechthin?

Möge uns die Coronakrise die Augen öffnen für unsere blinden Flecken und uns zur Quelle des Lebens zurückführen, dem wahren Glück, das Gott uns im Leben wie im Tod – und weit darüber hinaus - schenken will.

 

Portrait Felix Aeschlimann

Felix Aeschlimann, Direktor